Zahlreiche Beschäftigte in den bundesweit rund 700 Werkstätten für behinderte Menschen leiden besonders unter den Einschränkungen der Pandemie. Von heute auf morgen ist ihre gewohnte Tagesstruktur auf der Arbeit und in der Freizeit weggebrochen. Wie kann man diese besonders herausfordernde Zeit meistern? Die DFB-Stiftung Sepp Herberger, die sich umfassend im Behindertenfußball engagiert, stellt ein Best-Practice-Beispiel aus Niedersachsen vor.
Die Hannoverschen Werkstätten versuchen, dem Lockdown im Mannschaftssport mit einem umfangreichen digitalen Sportangebot entgegenzuwirken. Trainer und sportlicher Leiter Ilias Symeonidis bietet unter anderem Fußball-Trainings und -Challenges an. Zudem organisiert er die inklusive Fußballmannschaft unter dem Dach des TuS Kleefeld (Niedersächsischer Fußballverband). Für dieses Engagement wurde dem Verein im vergangenen Jahr die Sepp-Herberger-Urkunde verliehen. Im Interview erklärt Symeonidis, wie er das genau macht, wie das Feedback ist und warum er manchmal um 23 Uhr abends Anrufe von frustrierten Menschen aus seiner Sportgruppe bekommt.
Ilias, wie wichtig ist Sport und speziell der Fußball für Menschen mit Handicap?
Ilias Symeonidis: Sport hat nachweislich eine sehr positive Wirkung, vor allem in physischer und psychischer Hinsicht, aber auch bezüglich der sozialen Handlungsfähigkeit. Gleichzeitig werden auch Kompetenzen angesprochen, die für Menschen mit Handicap unmittelbar mit der Anpassung und Bewältigung des Lebensalltags verbunden sind. Ganz einfach gesagt: Die Qualität des Lebens wird dadurch verbessert. Ganz wichtig ist meiner Erfahrung nach, dass die Menschen mit Handicap feste Bezugspersonen haben, denen sie vertrauen und die ihnen Freude am Sport vermitteln. Speziell der Fußball ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig für die Entwicklung der sozialen Kompetenz. Spieler eines Fußballteams haben nachweislich eine sehr enge Bindung zueinander.
Wie sehr leiden Menschen mit Handicap in den Werkstätten unter dem Lockdown?
Für mich persönlich sind Menschen mit Handicap neben den Kindern die großen Verlierer dieser Pandemie, weil ihnen von heute auf morgen die geordnete Tagesstruktur weggebrochen ist. Die Werkstätten haben zwar wieder geöffnet, doch die Struktur der Bildungs- und Sportangebote fehlt vielen als Ausgleich. Wir merken im Alltag immer wieder, dass viele Menschen mit Handicap, die nicht so selbstständig sind, dringend Hilfe brauchen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Vor ein paar Tagen hat mich um 23 Uhr ein Mitglied unserer Sportgruppe angerufen. Er war völlig fertig und hat geweint. Er hat mir erzählt, dass er die Jungs und den Fußball vermisse und nicht mehr wisse, was er noch tun soll. Das war ein krasses Beispiel, das uns allen nochmal die Augen geöffnet hat, wie sehr Menschen mit Handicap unter der aktuellen Situation leiden.
Was haben Sie dann gemacht?
Ich habe länger mit ihm am Telefon gesprochen und ihn beruhigt. Hinzu kam in diesem speziellen Fall, dass die Person Probleme mit seiner Freundin hatte. Der Fußball hat ihm in diesem schwierigen Augenblick als Ausgleich gefehlt. Ich habe ihn beruhigt und meine Hilfe angeboten. Am nächsten Tag habe ich mit ihm eine Stunde Personal-Training gemacht, in der er sich richtig verausgaben konnte. Danach war die Welt für ihn wieder weitestgehend in Ordnung. Er hat das einfach gebraucht.
Welche Erkenntnisse ziehen Sie daraus?
Dass Menschen mit Handicap derzeit nicht mehr von den positiven psycho-physischen Effekten des Sports zehren. Sie fühlen sich teilweise allein gelassen und sind deswegen deprimiert. Die Kenntnis dieser Situation hat uns schon während des ersten Lockdowns dazu bewogen, unseren Werkstattbeschäftigten spezielle Angebote zu machen. In Zusammenarbeit mit der pädagogischen Leitung und dem Psychologischen Dienst haben wir das Projekt „HW aktiviert – gemeinsam durch die Corona-Zeit“ gestartet, das viel Sport aber auch andere kreative Aktionen beinhaltet.
Wie sieht das Sportprogramm aus, das Sie anbieten?
Wir bieten derzeit eine Art Personal-Training an. Hierbei werden anhand eines von mir entwickelten Anamnesebogens alle wichtigen Daten erfasst, die ich brauche, um einen individuellen Trainingsplan zu erstellen. Dieser kann drei Aspekte haben: Ich möchte fitter werden, ich möchte abnehmen, ich möchte mich auf ein Turnier/Spiel vorbereiten. Für Menschen, die abnehmen möchten, erstelle ich einen Ernährungsplan mit Einkaufsliste. Jede Woche findet mit jedem ein Feedbackgespräch statt, um Probleme, aber auch positive Dinge anzusprechen. Die Teilnehmer haben zudem jeden Tag die Möglichkeit, mich bei Bedarf anzurufen. Die Idee zu diesem Programm geisterte schon lange in meinem Kopf herum. Ich wollte unseren Werkstattbeschäftigten etwas anbieten, das ihnen das Gefühl gibt, dass sie jemanden haben, der ihre Bedürfnisse kennt und der sie versteht.
Beim Fußball ist aber kein Personal-Training möglich, oder?
Mit den Fußballern machen wir jede Woche bis zu drei Videokonferenzen. Dort besprechen wir uns kurz und anschließend trainieren wir gemeinsam. Diese Woche war zum Beispiel allgemeine Fitness dran. Nächste Woche steht Koordination auf dem Programm. Darüber hinaus machen wir mit den Fußballern Challenges, um die fußballspezifischen Aspekte nicht zu vergessen. Diese Woche war Jonglieren dran, nächste Woche kümmern wir uns ums Dribbling, danach „Kopfballtengeln“. Die Jungs können selbstverständlich auch eigene Vorschläge machen. Das ist immer ein Riesenspaß! Ich mache selbst auch mit, weil natürlich jeder besser als der Coach sein möchte. So bekomme ich die Jungs zusätzlich motiviert (lacht).
Und wenn jemand verletzt ist und deshalb nicht mitmachen kann?
Da haben wir auch eine Lösung. Für diejenigen, die aktuell mit Schmerzen oder Verletzungen zu kämpfen haben, habe ich Reha-Trainingspläne entwickelt. Ich habe sehr lange in der Sporttherapie gearbeitet und bin froh, unseren Werkstattbeschäftigten auch in diesem Bereich helfen zu können. Vergangene Woche habe ich einem Teilnehmer Übungen gegen seine Knieschmerzen gezeigt. Wir haben beispielsweise Aufgaben mit Fitnessbändern erarbeitet. Der Teilnehmer hat dann von mir auch ein Fitnessband und Hausaufgaben in Form von Übungen bekommen. Für unsere Rollifahrer habe ich vergangene Woche ein Video erstellt, das auf unsere Website kommt. Dort geht es hauptsächlich um Haltungsschulung.
Worauf muss man beim digitalen Training mit Menschen mit Handicap achten?
Wichtig sind leichte und verständliche Ausdrücke. Und man sollte immer alles vormachen, damit die Übungen verständlich sind. Menschen mit Handicap brauchen den visuellen Input und die Kontrolle, damit sie das mit ihrer Bewegungsvorstellung vergleichen können. Ich achte zudem sehr darauf, Fehler möglichst frühzeitig zu korrigieren, damit auf diesem Weg keine Verletzungen entstehen.
Wie wird das Programm angenommen? Wie ist das Feedback?
Super! Wir haben momentan 33 Menschen, die an diesem Programm teilnehmen und jede Woche kommen weitere dazu. Das Feedback war auch schon beim ersten Lockdown sensationell. Das bekräftigt und motiviert mich enorm, für unsere Werkstattbeschäftigten Zeit und Energie zu investieren. Die Übungen sind auch so aufgebaut, dass die Vorerfahrungen und das Material, das unsere Werkstattbeschäftigten zur Verfügung haben, mit einfließen. Das kann Ergometer-Training sein, ein Kraftzirkel oder Yogaübungen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Viele fangen an und entwickeln selbst Ideen. Das zeigt, was für Potenzial Menschen mit Handicap haben, und das macht mich unheimlich stolz. Das bestätigt, dass unsere Sportler mit Herzblut dabei sind. Toll!
Sie betreuen beim TuS Kleefeld sogar eine inklusive Fußballmannschaft.
Ich bin dort sogar Spielertrainer. Wir haben mit unserem lokalen Fußballverein eine Kooperation vereinbart. Seit der Saison 2019/2020 spielen wir dank einer Ausnahmegenehmigung des Niedersächsischen Fußballverbandes in der Ü40-Liga auf dem Kleinfeld mit. Das macht allen riesigen Spaß.
Gibt es auch einen Austausch mit anderen Werkstätten?
Momentan nicht, was aber in diesen Pandemie-geprägten Zeiten eben auch nicht einfach ist. Jeder versucht, diese schwierige Situation erstmal so zu meistern, wie er kann. Ich würde aber jederzeit einer Kollegin oder einem Kollegen aus einer anderen Werkstatt mit Rat zur Seite stehen. Das ist für mich selbstverständlich. Ich würde mich über einen Austausch freuen. Auch wer Ratschläge braucht, kann sich mit mir in Verbindung setzen. Ich teile mein Wissen gerne. In dieser schwierigen Situation sollten wir alle zusammenhalten.