Die Euro ist vorbei, das Finale gespielt, Jubel beim deutschen Team: Vom 06. bis 09. Juni fand die EM der Autoren-Nationalmannschaften in München und Berlin statt. Acht Teams aus ganz Europa kämpften um den heiß begehrten Titel. Neben den Spielen konnten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer über ein abwechslungsreiches Kulturprogramm freuen. Nach den Platzierungsspielen auf der Sportanlage Rennbahnstraße wurde in Berlin-Weißensee schließlich das Finale über 2x25 Minuten angepfiffen: Deutschland gegen Spanien. Es berichtet Norbert Kron, Spieler, Romanautor und Fernsehjournalist:
Manchmal liegt die Wahrheit nicht auf dem Platz, sondern steht ein paar Meter entfernt von der Außenlinie – am Stehtisch vor dem Vereinsbüdchen. "Ick wohne gleich um de Ecke und trink hier jern n Bierchen, um n bisschen wat von die älteren Herren zu sehen, die hier rumstolpern", sagt der braungebrannte Anfangsiebzijer (null Bauchansatz, dezente Goldkette). "Ick habe selbst dreißig-vierzig Jahre lang Fußball jespielt, höchste Berlina Spielklasse, dreimal Berlina Meister, dreimal Berlina Pokalsiejer. Als ick 35 war, hab ich nur noch letzten Mann jemacht. Da spielt det Auge dann ne große Rolle – und die Leute, die de vor dir hast. Die machen die Drecksarbeit. Und du hinten als Älterer – machst det Auge."
Wahrer lässt sich die taktische Aufstellung von Spanien, dem mehr als würdigen Finalgegner der deutschen "Autonama" (Autoren-Nationalmannschaft) am Sonntagnachmittag, nicht beschreiben. Bei bestem Kaiser-(Franz-)Wetter hat Kapitän Carlos Marañón Canal stets das Spielfeld im Blick, um das spanische Spiel mit genauen langen Bällen (und vorbildlicher Körperhaltung) zu eröffnen und zu steuern. Die erste Hälfte entwickelt sich dementsprechend als technisch intensiver Kampf ums Mittelfeld, bei dem Marañóns Vorderleute versuchen, die Kugel immer wieder an den schnellen Jacinto Elá Eyene zu stecken, dessen fintenreiche Alleingänge vorerst an der hochenergetischen Viererkette Müller-Müller-Hutter-Ehrmann oder am langen Bein von Torwart Hannes Köhler (12. Minute) scheitern.
Wie schwer es umgekehrt ist, gegen "Marañón den Libero" zum Torerfolg zu kommen, hatte die Autonama im Gruppenspiel am Vortag, das mit einem unglücklichen 0:1 endete, erfahren. Im Finale zeigt sich dann, dass nichts besser für die Mannschaftsmentalität ist als solch eine bittere Pille im Turniergepäck. Wut und Wille treiben die Autonama von Beginn an zu absoluter Konzentration und Einsatzbereitschaft. Friedemann Karig, Linus Guggenberger, Michael Wolf und Philipp Reinartz betreiben auf engstem Raum Realfußball als transformative Praxis, heißt schrauben am spanischen Abwehrverschluss, um den Korken von der La Roja-Flasche zu kriegen. Headcoach Andreas Merkel, im Las Vegas-Pokerspieler-Outfit (Sonnenbrille, tiefgezogene Basecap: "Ich habe für jeden von euch zuhause ein Psychogramm"), gibt bei seinen taktischen Brüllkommandos zu verstehen: La Mancha, todo es posible hoy!
Würde der vielfache Berliner Meisterfußballer, der übrigens für VEB Narva spielte, an der Seitenlinie und nicht am Trinkerbüdchen stehen, würde ihm ein Licht aufgehen: An diesem Tag wird nämlich kein Altherrenfußball gespielt, sondern athletischster Autorenfußball at its finest. Das ist auch der Entourage zu verdanken: Etwa der Cheerleader-Gruppe "Ehrgirls", die das Team ebenso anfeuern, wie die beiden Baby-Brodes den mittlerweile ziemlich ausgewachsenen Vater Nils Straatmann warmspielen. Außerdem gibt es da noch eine extrem starke Bank: Falko Hennig, Johannes Reißer, Jochen Schmidt, Mathias Schönsee und Lucas Vogelsang, die den Druck auf die erste Elf hochhalten und in der zweiten Halbzeit zum Einsatz kommen. Des Weiteren die Ehrenspieler Valerius, Richter, Kröchert, Kron und Hannemann, die als Turnierdirektor, Foto- und Filmbeauftragte sowie Teammaskottchen fungieren.
In der Halbzeitansprache schwört Headcoach Merkel das Team auf effiziente harte Flachpässe anstelle gechippter Zauberbälle ein. Teamkäpt'n Afanasjew setzt außerdem auf eine taktische Maßnahme, die niemand anderen als "El Ojo Marañón" ins Visier nimmt. Tatsächlich kann so ein 0:0 mit nachfolgendem Elferschießen abgewendet werden: Nach zehnminütigem Abnutzungsfight, in dem beide Mannschaften nur zu halben Torchancen kommen, legt Karig kurz hinter der Mittellinie auf Ehrmann zurück, der den Ball mit einem exakt getimeten Franz-Beckenbauer-Pass auf den vor dem Sechzehner einstartenden Straatmann spielt. Ausgerechnet Marañón verliert diesen aus den Augen, sodass ihm nichts anderes bleibt, als Straatmann nach einer Körpertäuschung mit einem Foul zu Fall zu bringen. Den folgerichtigen Elfmeter verwandelt Afanasjew in der 36. Minute sicher mit einem Flachschuss ins linke Eck.
Aber das war es noch nicht. Die Spanier, verletzungsgeschwächt und mental angeschlagen, haben keine Kraft mehr, entschlossen hinten rauszurücken. Nach einem langen Ball aus der eigenen Hälfte auf Afanasjew hebt die spanische Nummer 15 das Abseits auf, der Autonama-Käpt'n umkurvt den spanischen Keeper lässig auf der linken Seite und schiebt in der 39. Minute zum 2:0 Endstand ein. So sehr sich die Spanier noch einmal aufbäumen, die Autonama-Abwehr steht und Katze Köhler hält. Dann ist Schluss – der Jubel groß: Die Autonama hat bewiesen, dass sie sich seit der Autoren-EM 2010 nicht 14 Jahre lang unverdient als Europameister fühlte. Selten spielte die Mannschaft besser als in den beiden Spielen des Finalsonntags. Das erkennen auch die fairen Gegner an – oder wie Vogelsang es auf den Punkt bringt: "Die Spanier stehen Spalier." Wobei in diesem Fall gerechterweise gegendert werden müsste: "Die Spanier:innen stehen Spalier:innen." (Schließlich wird die Geschlechtervielfalt im Autor:innenfußball nur noch von Schweden übertroffen, mit diversen Ekelunds im Team.)
Die Regenbogenflagge Europas weht über dem Platz; eines der wichtigsten Zeichen am Tag der Europawahl.