„Bringt alles nichts“, sagten die Skeptiker. Als Sepp Herberger vor etwas mehr als 50 Jahren erstmals ein Gefängnis besuchte, hatte sich der „Chef“ mithin eine schier unlösbare Aufgabe gestellt: die Resozialisierung von Strafgefangenen. Herbergers Mission galt fortan den angeblich Chancenlosen. Er wollte Außenseiter zum Sieg führen. Damit kannte er sich bekanntlich aus. Für den vorliegenden Jahresbericht sprachen wir mit vier Menschen, die in Berlin tagtäglich daran arbeiten, junge Straftäter auf diese ersehnte – und gleichzeitig für sie auch bedrohliche – Freiheit vorzubereiten.
Janina Deiningers Arbeitsweg führt sie jeden Morgen hinter die hohen Mauern der Jugendstrafanstalt (JSA) Berlin. 403 Haftplätze im geschlossenen Vollzug. Nur junge Männer. Haftinsassen mit Kapitalverbrechen sitzen hier zehn Jahre und mehr ein, die durchschnittliche Haftzeit beträgt 18 Monate. Janina Deininger begann als Erzieherin, studierte Sozialpädagogik und legte noch einen Master in „Social Management“ drauf. Heute leitet sie die sozialpädagogische Abteilung der JSA Berlin. Seit 26 Jahren ist sie hier tätig. „Entscheidend ist, dass der entlassene Häftling eine Anstellung findet. Die Zahlen des kriminologischen Dienstes belegen, dass die berufliche und schulische Bildung wesentlich sind für eine erfolgreiche Rückkehr in unsere Gesellschaft“, analysiert Janina Deininger.
Viele schaffen es nicht. Mehr als 60 Prozent der Haftinsassen werden nach der Entlassung rückfällig, wobei die Statistiken kompliziert sind und manche Zahlen verwirren. Immerhin, die JSA Berlin liegt bei der Rückfallquote jugendlicher Ersttäter leicht unter dem Bundesschnitt. „Wenn jemand wegen mehrfacher Gewalttaten inhaftiert war und später bei einem Einbruch geschnappt wird, sehen wir das schon als kleinen Erfolg“, sagt Deininger mit nüchterner Stimme. Herkules oder Sisyphos?
Die Aufgabe jedenfalls ist kolossal. Das wird jedem schnell klar, der mit Janina Deininger spricht. Im vergangenen Oktober, 50 Jahre nach Herbergers erstem Gefängnisbesuch, durfte sie den DFB-Präsidenten Fritz Keller und die Bundesjustizministerin in der JSA Berlin begrüßen. Christine Lambrecht lobte den Fußball hinter Mauern: „Schon deshalb, weil man sich als junger Mensch auch mal ausgelassen bewegen muss.“
Fürs Dampfablassen war 40 Jahre lang Werner Poel zuständig. Nein, Angst habe er nie gehabt, ein ungutes Gefühl vielleicht schon. Einige wenige Male. Er wählt immer den Platz an der Wand, selbst wenn er mit der Familie ins Restaurant geht. Als man noch in Restaurants ging. Werner Poel, 1,65 Meter und schmächtig, mittlerweile 79 Jahre alt, ehemals Vollzugsbeamter in der JSA Berlin, hat vier Jahrzehnte lang den Gefängnisfußball in Berlin als Spieler und Trainer mitgeprägt. Früher in der „alten Plötze“, wie er sagt, seit Fertigstellung des Neubaus 1987 in der JSA Berlin.
Nach den Corona-Beschränkungen wird er wieder zweimal die Woche das Training leiten, wenn auch inzwischen mit Unterstützung eines Co-Trainers und weiterer Kollegen der Abteilung Sport. „Mich hat das geprägt, das war und ist bis heute meine Lebensaufgabe“, sagt er. Dann spricht der B-Lizenzinhaber und Schiedsrichter nur noch über Fußball. Der Wunder bewirke. Neue Haftinsassen rückten in der Hierarchie nach oben, wenn sie mit dem Ball umzugehen verstehen. Die Kontakte über den Fußball würden selbst nach der Entlassung helfen. Ein Glücksmoment? Sei für ihn gewesen, als seine Jungs den Fair-Play-Pokal gewannen. 1980 war Poel Mitgründer der Berliner „Drogenliga“. Junkies, Alkoholiker aus Therapie- und Entzugskliniken spielten gegen Poels Kicker im Knast. Anfangs gab es Probleme mit der Disziplin. Es hagelte Karten. „Aber in der dritten Saison gewannen wir die Fair-Play-Wertung. Da war ich stolz.“
Hart, aber fair spielen sie bis heute. Keiner aus Poels Mannschaft würde je bei einem Pressschlag zurückziehen. „Gegner fragen mich, was gibst du denen vor dem Spiel? Ich antworte: Traubenzucker.“ Einer seiner Ex-Spieler zählt heute in der Berlin-Liga zu den Top-Torschützen. Für die Straftaten interessiert Poel sich nicht. „Ich bin als Sport-Übungsleiter vor Ort, nicht als Richter. Es läuft gut, ohne Berührungsängste oder Vorurteile“, sagt er.
Helmut Hübener hörte BBC und verfasste Flugblätter. Dafür wurde er im Januar 1942 inhaftiert und im Oktober mit gerade mal 17 Jahren in der „alten Plötze“ in Berlin hingerichtet. Nach ihm ist die Schule benannt, die Birgit Lang leitet. Eine der Lehrerinnen ist Sira Ullrich, sie leitet den „Crashkurs Deutsch“ in Haus 6. Die 70 Plätze an der Helmut-Hübener-Schule belegen Gefangene, die einen Schulabschluss nachholen, sowie Strafgefangene, die rudimentärste Deutschkenntnisse erwerben wollen. „Erst einmal müssen wir eine Ebene erreichen, damit sie wenigstens wissen, was von ihnen täglich verlangt wird. Wir müssen unsere jungen Männer fit machen, damit sie aktiv am Vollzug teilnehmen“, erklärt die Schulleiterin.
Auch Ullrich berichtet offen, wie schwer der Anfang sei. Sechs Plätze hat ihr Deutschkurs. In der U-Haft ist die Fluktuation hoch. Manche sind nur drei Tage in der Klasse, es kann aber auch ein Jahr werden. „Manche sind traumatisiert, andere komplett orientierungslos. Mich schockiert heute noch manchmal, wie wenig Grundbildung vorhanden ist. Begriffe wie, sagen wir Physik oder Literatur, darunter können sich viele nichts vorstellen.“ Wenn einer partout stört, hat sie die Möglichkeit, denjenigen aus dem Kurs zu entfernen. Dabei empfindet sie durchaus Glücksmomente in ihrer Arbeit, sie erlebt Sinnhaftigkeit. „Wenn einer zum ersten Mal einen Buchstaben schreibt, das ist so ein Boost für das Selbstbewusstsein.“
Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl – das ist die Ausstattung einer Zelle. Doch auch Janina Deininger hat es schon erlebt, privat, dass ein Bekannter sagte, die lebten doch alle wie im Schlaraffenland. Inhaftierung, das sei eigentlich Wellnessurlaub. „Das sagt nur jemand, der noch nie inhaftiert war“ antwortet sie dann meistens. Und versucht Einblicke zu geben in das Leben hinter Mauern, auch wenn sie inzwischen weiß: „Der Entzug von Freiheit ist nicht erklärbar.“
Werner Poel, Janina Deininger, Birgit Lang und Sira Ullrich sind sich einig: Fußball schafft Teamgeist, schult Sozialverhalten, lehrt das Einhalten von Regeln. Und Fußball hinter Mauern schafft kurze und wichtige Freiheitsmomente. „Wenn sie vom Fußball zurückkommen“, erzählt Birgit Lang, „dann sind sie wie verwandelt.“ Genau darauf hatte Sepp Herberger gehofft.