1951 gewann der 1. FC Kaiserslautern zum ersten Mal die Deutsche Meisterschaft. Drei weitere Titelgewinne sollten bis 1998 folgen. Mit dem pfälzischen Traditionsverein verband Sepp Herberger zeitlebens eine besondere Beziehung. Mit fünf Lauterern gewann er 1954 die Fußballweltmeisterschaft. Der freie Journalist Udo Muras blickt zurück auf diese Zeit und die besondere Beziehung des „Chefs“ zu den Roten Teufeln und den fünf Lauterer Weltmeistern. Eine Affenliebe, wie manche Zeitzeugen spotteten, war es nicht.
Das Publikum erhob sich, obwohl das Spiel noch lief. Sie wollten noch nicht gehen, sie wollten demonstrieren. Zu Hunderten, vielleicht gar zu Tausenden. Ein Ruf erschall durch den Hamburger Volkspark, laut und fordernd: „Herberger! Herberger!“ Es waren keine Sympathiebekundungen, so mancher hängte noch das Wort „raus“ an. Volkes Stimme verschaffte sich Gehör an jenem 23. Mai 1954 beim Endspiel um die Deutsche Meisterschaft, doch erhört wurde sie nicht. Sepp Herberger erhob sich mannhaft und trotzte dem Sturm, der nun, da sie ihn sahen, in Form eines gellenden Pfeifkonzerts über ihn hinwegfegte. Der Bundestrainer jener heute so fernen Jahre kommentierte diese oft geschilderte Szene kurz vor Ende des Finales, das der gegen Hannover 96 mit 1:5 verlieren würde, so: „Herberger – das hieß: Siehst du deine Lieblinge?
Herberger – das war ein Fanal der Kritik, eine unmissverständliche Kritik an meiner Wahl.“ Die WM in der Schweiz stand vor der Tür, der Kader war schon nominiert und „der Chef“ plante mit fünf Kaiserslauterern, aber keinem Hannoveraner, die er sich nach dem Match in der Kabine erst einzeln vorstellen ließ. Das blieb so, nicht nur weil die FIFA-Fristen ohnehin keine Änderung mehr ermöglichten. „Ich habe mich gestellt und ich bin stehen geblieben. Denn ich habe mich überzeugt: Die Kaiserslauterer waren bei bester Kondition, nur in schlechter Form.“ Die Kaiserslauterer und Sepp Herberger – das ewige Reizthema für viele Fußballfans in den ersten Nachkriegsjahren. Eine „Affenliebe“ wurde ihm attestiert, eine „Mannschaftspolitik vom Kaiserslauterer Kirchturm aus“, ein Kaiserslautern-Komplex. Dabei bediente er sich doch nur bei der besten Mannschaft der ersten Nachkriegsjahre, die von 1948-1955 fünfmal im Finale stand und es 1951, vor 70 Jahren, erstmals gewann.
Ist das so ungewöhnlich? Natürlich nicht, es ist beinahe folgerichtig. 1974 wurde Helmut Schön mit sechs Bayern Weltmeister, Jogi Löw 2014 gar mit sieben. Ungewöhnlich ist höchstens, dass Herberger seinen Anteil am rasanten Aufstieg des FCK hatte, mit dem ihn einiges verband, was manche Kritiker eben an seiner Objektivität zweifeln ließ.
Darf ein Bundestrainer eine Lieblingsmannschaft haben? Offiziell natürlich lieber nicht. Wenn der Anschein erweckt wurde, dass dies so sei, empörte sich das Volk schnell und er ging anfangs noch in Abwehrhaltung. Die sich erst allmählich wieder entwickelnde Sportpresse spielte dabei eine große Rolle. Regionales Denken dominierte nicht nur die Urteile der Fans, sondern auch der Reporter, die allesamt kaum Möglichkeiten hatten, sich einen Gesamtüberblick über den Spitzenfußball zu verschaffen. Deutschland war bis 1949 in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die Reisemöglichkeiten beschränkt, und noch bis 1963 gab es im Fußball vier Oberligen und eine Berliner Stadtliga. Fernsehen hatte vor 1954 kein Mensch. Objektiv konnte in Hamburg niemand beurteilen, wie gut die Lauterer oder Münchner sind, auch Herberger war auf Mitarbeiterberichte am Telefon oder per Brief angewiesen. Im Juli 1948 kommentierte er die Leistungen der TuS Neuendorf so: „Wenn die Lauterer so viele Torgelegenheiten gehabt hätten, sie würden mit fünf, sechs Toren führen.“ Auch das war Wasser auf die Mühlen der Affenliebe-Verfechter.
Einen wütenden Leserbrief aus Saarbrücken provozierte er im Dezember 1951, bloß weil er und Fritz Walter das Fehlen von Ottmar Walter für den knappen Spielausgang verantwortlich machten. Mit ihm hätte der FCK 3:0 oder 4:0 gewonnen, sagten sie. Der Leser grollte: „Was sich da die Herren an unsachlichen Bemerkungen erlaubt haben, geht doch wirklich nicht mehr auf die berühmte Kuhhaut.“ Im April 1951 schrieb ein Fußballanhänger aus Neustadt in Nordbayern: „Wir stehen auf dem Standpunkt, dass ein Bundestrainer sich regelmäßig in gewissen Abständen in allen Fußball-Zentren ein persönliches Bild von dem Können einzelner Spieler machen muss und nicht einseitig sich orientiert. Dass wir in Nürnberg-Fürth mit seinen Besuchen verwöhnt wurden, kann bestimmt niemand behaupten.“ Aus dem Westen kam im selben Jahr die Frage: „Warum nehmen Sie nicht den kompletten Sturm von Preußen Münster?“
So weit zu den Emotionen. Wie steht es um die Fakten, was ist bewiesen? Das Verhältnis Herberger-FCK basiert auf seinem Faible für Fritz Walter, den der Chef im Juli 1940 zum ersten Nationalspieler dieses Klubs machte. Ihre „Vater-Sohn-Beziehung“ ist hinlänglich beschrieben worden. Als Fritz Walter nach dem Krieg damit begann, den FCK wieder aufzubauen und sich in Dreifachfunktion als Spieler, Trainer und Geschäftsführer versuchte, konnte er jede Hilfe gebrauchen. Er bekam sie auch von Herberger, der nach dem Zusammenbruch des Reiches arbeitslos war. Es gab vorläufig kein Deutschland, also auch keinen Bundestrainer. Den Wunsch nach Fortsetzung seiner Arbeit gab es freilich, und so war sein Streben darauf ausgerichtet, auf den Tag X vorbereitet zu sein. Der Spielbetrieb begann im Süden schon Ende 1945 wieder und Herberger machte seine Antrittsbesuche im erreichbaren Umfeld. Stuttgart, Frankfurt, Kaiserslautern. Dort besonders. Von wem die Initiative ausging, ist nicht überliefert, aber es ist unstrittig, dass Herberger Walter mit Rat und Tat zur Seite stand. Dazu kam er auch regelmäßig in die Pfalz, wie erhaltene Briefe belegen. „Wir wären sehr froh, wenn Sie bereits mittwochs zum Training unserer ersten Mannschaft eintrudeln würden“, schrieb der Vorstand am 10. September 1947 kurz vor dem Saisonstart in der „Französischen Zone“.
Ja, er komme öfter zum FCK, „aber ich trainiere die nicht fest“, sagte er Bayern Münchens Nationalspieler Jakob Streitle 1947. Es war eine lose Beziehung mit festen Absichten, geschuldet den Umständen jener besonderen Zeit.
Im November 1945 bereits erhielt Herberger einen Brief vom FCK-Präsidenten Ludwig Müller, der zunächst seiner Freude Ausdruck gab, dass „Sie gut über den Krieg hinweggekommen sind“. Ferner bedankte er sich dafür, dass er dem von Eintracht Frankfurt umworbenen Fritz Walter „den einzig richtigen Rat gegeben habe“, nämlich sich mit dem FCK zu verständigen und zu bleiben.
Ab 1946 half Herberger Walter beim Aufbau der Mannschaft, auch per schriftlicher Anweisungen. „Geht, meine Freunde, in die nächsten Spiele im Bewusstsein eures hohen Könnens. Ihr könnt mehr als alle anderen, wenn ihr euch stets bewusst bleibt, dass es nicht nur darum geht, Tore zu schießen, sondern ebenso wichtig ist, Tore zu verhindern. Wenn ihr alle so gewappnet in eure Spiele geht … dann haben wir auch am nächsten Sonntag allen Grund, uns ehrlich zu freuen“, heißt es am 3. Februar 1947 in einem Brief an Fritz Walter, den er der Mannschaft vorzulesen hatte. Anlässlich seines 50. Geburtstages unterschrieb die ganze Mannschaft einen Glückwunschbrief auf Vereinspapier, aus dem hervorgeht: „Durch Ihre Besuche in Kaiserslautern haben Sie nicht nur unserem lieben Fritz Walter, sondern auch unserer 1. Fußballmannschaft durch Ihr reiches Wissen und große Erfahrung das geholfen beizubringen, was sie heute in so überzeugendem Maße unserem sportfreudigen Publikum darbietet.“
1947 gewann der FCK die Zonenmeisterschaft und Herberger erhielt sogar ein in einem Vorstandsbrief angekündigtes, aber nicht näher bezeichnetes Geschenk, war er doch der Schattenmann hinter dem Erfolg. Im Weihnachtsgruß des Vereins von 1947 an den Gönner in Weinheim hieß es: „Wir wollen in unserem Erfolge und mit unserem Glücke nicht vergessen, dass Sie es waren, der die Unterlagen schuf, auf denen wir aufbauen konnten.“
Walter gestand 1964: „Als Lehrmeister war ich ein unbeschriebenes Blatt. Um ehrlich zu sein, meine ganze Weisheit hatte ich Sepp Herberger abgeschaut. Nach seinem Vorbild, nach seiner eigenen Methode betreute ich nun den FCK. Der Chef beobachtete meine Bemühungen mit Interesse. Mehr noch: Er unterstützte mich, wo immer er konnte, vor allem mit taktischen Ratschlägen. Gemeinsam machten wir uns daran, die ‚Roten Teufel vom Betzenberg‘ zu einer schlagkräftigen Mannschaft zu formen. Wir arbeiteten lange im Stillen, bevor wir nennenswerte Spielabschlüsse riskierten… Herberger fühlte sich wohl in unserem Kreis. Vielleicht fand er hier, was es für ihn auf höherer Ebene in dieser Zeit noch nicht wieder gab: die verschworene Gemeinschaft junger Menschen.“ In Kaiserslautern „wohnte er bei Freunden am Stadtrand, oft auch bei ‚meiner‘ Metzgerfamilie. Trotz der kalorienarmen Versorgungsperioden konnte er sich hier jederzeit an einen reichlich gedeckten Tisch setzen“, schrieb Walter in seiner im Sport Magazin publizierten Serie „Der Chef“.
Herbergers Anteil am Aufschwung des FCK, der 1948 erstmals im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft (1:2 gegen Nürnberg) stand, ist also unstrittig. Warum nun sollte er nicht davon profitieren? Als Deutschland am 22. November 1950 wieder ein Länderspiel austragen durfte, nominierte er erstmals Ottmar Walter im Wissen um dessen Klasse und darum, dass er mit Bruder Fritz harmonieren würde. Dass mit Werner Liebrich, Werner Kohlmeyer und zuletzt Horst Eckel bis 1954 noch drei Lauterer hinzukamen, war für ihn nur konsequent. Er kannte sie – bis auf Eckel – aus eigener Anschauung – und mit ihren Erfolgen warben sie für sich selbst. Dem Titel 1951 folgte der von 1953, auch 1954 und 1955 standen die Lauterer im Endspiel. Otto Rehhagel, als Spieler und Trainer selbst in Kaiserslautern aktiv (und 1998 Meister), rechtfertigt Herbergers Personalauswahl noch heute: „Er hat früh genug erkannt, dass diese Spieler in sein Gesamtkonzept passten. Am Ende wurde er Weltmeister, was will man mehr? Das ist doch die endgültige Wahrheit.“
Zur Wahrheit gehört auch, dass das Konzept mit Fritz Walter stand und fiel. Der war nach Bern zweimal zurückgetreten, 1954 kurz, 1956 etwas länger. Herberger kämpfte um ihn, allen Widerständen gegen den „alten Fritz“ zum Trotz. In einem Vortrag sagte der Chef 1956: „Man wirft mir wie- der vielerorts meinen Fritz-Walter- bzw. Kaiserslauterer Komplex vor. Es hat keinen Zweck, gegen diese vorgefasste Meinung anzurennen. Hier möchte ich doch einmal feststellen, dass es einen solchen Komplex nicht gibt: Fritz Walter ist der beste Fußballspieler, den Deutschland hervorgebracht hat. Andere Länder wären froh, wenn sie ihn hätten.“ Er konnte ihn noch mit 36 zur WM-Teilnahme 1958 bewegen, nahm auch Eckel mit, aber für weitere Lauterer war da schon kein Platz mehr. Das führte sogar zu einer erheblichen Verstimmung mit Liebrich, den Herberger nicht mehr für stark genug erachtete.
„Ich habe damals nach bestem Wissen und Gewissen meine Entscheidung getroffen.“ Denn auch bei ihm galt das Leistungsprinzip! Als Fritz Walter nach der WM 1958 abtrat, endete auch die FCK-Ära in der Nationalmannschaft. Nur Horst Eckel spielte noch einmal im November 1958, in den folgenden 37 Länderspielen bis zu Herbergers Abschied war kein roter Teufel mehr dabei. Noch ein Fakt entkräftet die vermeintlich einseitige Bevorzugung der Kaiserslauterer, von denen inklusive Karl Schmidt (1955-57) in der Herberger-Ära nur sechs Spieler für Deutschland aufliefen: Aus zehn Vereinen rekrutierte Herberger mehr Spieler, weit vorne liegen Schalke 04 (15) und Fortuna Düsseldorf (14).
Was nichts an seiner ungebrochenen Sympathie für diesen Verein ändert, mit dem er 1957 sogar auf USA-Reise ging. Erneutes Wasser auf die Mühlen der Kritiker, doch hatte die „Deutsch-Amerikanische Fußball-Liga“ eben den bekanntesten deutschen Klub und den populären Weltmeistertrainer gemeinsam eingeladen. 1956 mussten sie noch absagen, 1957 ging es dann mit dem Schiff über den großen Teich. Und wieder vertrugen sich Chef und Rote Teufel prächtig, was für einen Mannheimer an sich ja fast schon ungehörig erscheint. Dass er die Sympathie für den FCK auch noch hegte, als er wieder Bundestrainer war, belegt übrigens ein Brief an Horst Eckel vom 10. Dezember 1954, der wohl zu Lebzeiten besser nicht öffentlich geworden wäre.
Herberger schrieb, um den angeschlagen seit Wochen fehlenden Eckel aufzubauen, darin: „Weil ich weiß, wie bedrückend und quälend für einen Aktiven bei einem entscheidenden Spiel das Zuschauen werden könnte, wünsche ich Ihnen für das morgige Spiel das, was ich mir bei Länderspielen wünsche, dass es ein glatter Sieg für Kaiserslautern werden möge und die zu schießenden Tore dann schon recht früh – zur Beruhigung Ihrer Nerven – fallen mögen!“ Doch wer genau liest, der versteht: Es geht ihm nicht so sehr um den Verein, sondern viel mehr um den Menschen.