Nur den wenigsten Menschen ist es vergönnt, 100 zu werden. Auch Egidius Braun nicht, der am 16. März 2022 mit 97 starb. Doch ohne Frage gehört er zu den Menschen, die eine Würdigung zum 100. Geburtstag verdienen, den er an diesem Donnerstag gefeiert hätte. Als er vor drei Jahren starb, erschien unter anderem im kicker eine ganzseitige Würdigung. Der Schluss hätte ihn besonders gefreut: "Nun starb Egidius Braun mit 97 Jahren. Seine Werte werden bleiben." Auch der ehemalige DFB-Präsident Fritz Keller schlug 2019 in diese Kerbe: "Die Werte, die Sie im DFB verankert haben, sind heute wichtiger und wertvoller als jemals zuvor."
In diesen weltpolitisch aufgeregten Zeiten kann man da nur zustimmen. Für die Schwachen dazu sein, für die Armen und Bedrängten, für Inklusion – für all das stand Egidius Braun und dafür steht die 2001 gegründete DFB-Stiftung, die seinen Namen trägt.
Als DFB-Präsident schied er in jenem Jahr aus, damit verbunden war ein Rückzug aus dem Rampenlicht, das er ohnehin nie suchte, das ihm aber nicht erspart bleiben konnte – weil dieser Mann und das, was er tat, einfach zu bemerkenswert war. Gerade auch im eher oberflächlichen Fußballgeschäft, wo sich fast jeder selbst der nächste ist und dem Erfolg alles untergeordnet wird. So war Egidius Braun nicht. Wer war er, wie war er? Den Jüngeren muss man es unbedingt erzählen und die Weggefährten hören es sicher gern, weil die Erinnerung an die gemeinsame Zeit überwiegend schön war.
Er war kein Geistlicher, aber sie nannten ihn dennoch "Pater Braun". Nach einer englischen Romanfigur, deren Abenteuer mehrmals verfilmt wurden, einmal auch mit dem beliebten Schauspieler Heinz Rühmann in der Hauptrolle. Es war also ein liebevoller Vergleich, den sich Egidius Braun da gefallen lassen musste.
Er war sicher einer der beliebtesten DFB-Präsidenten. Ein Streifzug durch sein Leben: Im Alter von 13 Jahren begann die Fußballkarriere des Egidius Braun, der in einem Stadtteil von Stolberg bei Aachen aufwuchs, als Spieler beim SV Breinig.
Nach dem Abitur 1943 traf auch ihn das Los seiner Generation: Er wurde Soldat und zog in den Krieg. Viele kamen nicht zurück, er schon. Zu seinem Glück geriet er in Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wurde. Nun fand er wieder Zeit für den Fußball in seinem SV Breinig. Fußball konnte aber nur Nebensache sein für einen jungen Mann in einem zerstörten Land. Geld ließ sich damit nicht verdienen, weder in Breinig noch anderswo, nicht so kurz nach dem Krieg.
Aber er war ja ein heller Kopf, studierte Jura und Philosophie und fand zugleich Zeit, sich mit seinem Unternehmen "Kartoffel-Braun" selbstständig zu machen. Wer so etwas kann, eignet sich für diverse Führungsaufgaben.
Als die Deutschen ihr Wunder von Bern feierten, saß er als 2. Vorsitzender schon im Vorstand seines SV. 1956 übernahm er im Alter von 31 Jahren den Vorsitz – bis zum 20. Februar 1959. Die Spielerkarriere war nun zu Ende, die Fußball-Liebe nicht. Der kann man auf vielfältige Weise nachgehen: Braun griff nach der Schiedsrichterpfeife und machte den undankbaren Job, ohne den kein Spiel stattfinden könnte, acht Jahre lang. Nicht jedes Spiel ist mit Abpfiff zu Ende, manches geht vor Gericht.
Da war der Jurist Braun natürlich eine Idealbesetzung. Zunächst als Beisitzer, dann als Vorsitzender der Spruchkammer des Fußballkreises 7-Aachen, diente er seinem Sport in einer weiteren Form, die nicht nur Vergnügen bereitet und für die es eine gute Portion Idealismus braucht. Kurzum: Dafür muss man geboren sein. Egidius Braun war es.
Er wurde das, was man einen Funktionär nennt und es ging immer weiter nach oben auf der Karriereleiter: Am 4. August 1973 wurde er zum Präsidenten des Fußball-Verbandes Mittelrhein und zum Mitglied des DFB-Beirates gewählt. Drei Wochen später war er schon Vizepräsident des Westdeutschen Fußball-Verbandes.
Auf dem DFB-Bundestag wurde Braun am 28. Oktober 1977 zum Schatzmeister gewählt und war quasi die rechte Hand von Präsident Hermann Neuberger. Dass er diesen Job 15 Jahre machen würde, ahnte er freilich nicht. Aber dabei blieb es nicht. Ab 1981 war seine Kompetenz auch in internationalen Gremien gefragt: Braun wurde ins UEFA-OK gewählt, zwecks Organisation von EM-Endrunden an der Seite Neubergers (1984; 1988 im eigenen Land, 1992).
Die vollständige Aufzählung seiner Ämter und Auszeichnungen würde den üblichen Rahmen eines Artikels sprengen. Dass er seine verantwortungsvollen Aufgaben gewissenhaft meisterte, bewies das ganz spezielle Geschenk zu seinem 60. Geburtstag, dem 27. Februar 1985: Da wurde Braun das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Vor der "Beförderung", dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern (1997), stieg er auch innerhalb des DFB auf.
2001 folgte das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Nach 15 Jahren als Schatzmeister löste Braun am 24. Oktober 1992 den verstorbenen Freund Hermann Neuberger ab und war nun der zweite Präsident eines gesamtdeutschen Verbandes. Das Amt hatte er bis zum 28. April 2001 inne, nach seinem Ausscheiden wurde im Juli 2001 die nach ihm benannte Stiftung gegründet. Sie steht seit dem ersten Tag unter dem von ihm geprägten Motto: "Fußball ist mehr als ein 1:0!"
Bereits in den 1990er-Jahren begründete Egidius Braun vor dem Hintergrund von rechtsradikalen Brandanschlägen die Initiative "Mein Freund ist Ausländer", die ersten Benefiz-Länderspiele und den DFB-Sportförderverein, der 2001 in der Stiftung aufging.
Mit der Nationalmannschaft erlebte er viele bewegende und manche schweren Stunden. Während der WM 1986 in Mexiko kam eine Ordensschwester ins DFB-Quartier in Querétaro und das Anliegen von Madre Adela fand bei Pater Braun Gehör.
Auf ihren Wunsch hin besuchte Braun mit einigen Spielern ein Waisenhaus, die "Casa de Cuna", und gründete unter dem Eindruck des Elends – die Kinder lagen zum Teil in Apfelsinenkisten – spontan die Mexico-Hilfe, die bis heute ein Eckpfeiler der Stiftung ist. Bis heute werden Bildungsprojekte für Kinder und Jugendliche in Mexiko-City, Querétaro und Guadalajara unterstützt.
Ex-Nationaltorwart Toni Schumacher gehörte zu denen, die das Erlebnis im Sommer 1986 prägte. Im Rückblick sagte er Jahrzehnte später über Braun: "Sein soziales Engagement zeigte sich unter anderem in der Mexico-Hilfe, die auf einem Besuch eines Kinderheims in Querétaro während der WM 1986 basierte. Egidius Braun sensibilisierte uns damals dafür, 'nicht nur etwas mitzunehmen, sondern auch etwas dazulassen'."
Die Mexikaner verliehen Egidius Braun den "Orden del Aguilo Azteca", die höchste Auszeichnung für Ausländer. Das, was Egidius Braun tat, tat er aber nicht für Orden, sondern um zu helfen.
In der Nationalmannschaft war "Pater Braun" sehr beliebt. "Jeder konnte mit seinen Problemen zu ihm kommen", betonte der Bundestrainer der Braun-Ära, Berti Vogts.
Obgleich die Spieler seine Härte bei Prämienverhandlungen fürchteten, da war er doch ganz Kaufmann. Doch nach dem WM-Halbfinalsieg gegen die Franzosen setzte er sich 1986 ans Klavier und machte die Musik auf der rauschenden Spontan-Party. Das waren andere Lieder und Töne als in seiner Walheimer Klosterkirche, wo er sonntags die Orgel spielte.
Weltmeister wurden die Deutschen unter dem auch oft fröhlichen Präsidenten Braun nicht und manchmal blieb ihm das Lachen im Halse stecken. Die beiden WM-Turniere unter seiner Ägide etwa endeten mit dem Aus im Viertelfinale. Sündenbock der Öffentlichkeit dafür war natürlich Bundestrainer Berti Vogts, den Braun trotz medialer Angriffe die Treue hielt. Er hielt die Anfeindungen nach der WM 1994 in den USA, von der er Stefan Effenberg schweren Herzens nach seiner "Stinkefinger-Affäre" heim schicken musste, aus und sah sich bestätigt, als Vogts 1996 die Europameisterschaft gewann.
Die schwersten Stunden durchlitt er 1998 in Frankreich, als deutsche Hooligans am Rande des Spiels gegen Jugoslawien den Polizisten Daniel Nivel ins Koma schlugen, aus dem er als ein anderer, bis heute leidender, Mann erwachte.
In jener Schreckensnacht von Lens sah Braun nur den Menschen, der da um sein Leben kämpfte und nicht die sportlichen Ziele. Er wollte die Mannschaft von dem Turnier zurückziehen, erst nach einem emotionalen Telefonat mit Vogts gab er seinen Plan auf. Bis heute kümmert sich der DFB um die Familie Nivel, auch das gehört zu Brauns Vermächtnis.
Auf dem 36. Bundestag am 24. Oktober 1998 ging er in seine dritte Amtsperiode, nun wieder voller Tatendrang rief er die Parole aus: "Auf geht's, DFB, über die Jahrtausendschwelle – ich bin bereit!" Für weitere drei Jahre. Sie gingen über die Schwelle, sportlich allerdings in eine Talsohle. Turbulenzen auf der Trainerposition und das Vorrundenaus bei der EM 2000 beschwerten seine letzten Amtstage. Auf dem Bundestag in Magdeburg gab er dann seinen Rücktritt bekannt, er war schon 74.
Mit einem feierlichen Festakt im Beisein von Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde der Mann, dessen Vorname im Altgriechischen "Schildträger" bedeutete, 2001 verabschiedet. Der DFB brachte eigens eine Broschüre "Die Ära Egidius Braun" heraus und ernannte seinen achten Präsidenten zum ersten Ehrenpräsidenten.
So viel der Ehre, aber gewiss nicht zu viel. Und das Glück eines langen und erfüllten Lebens. Egidius Braun war fast 70 Jahre verheiratet mit seiner im Mai 2020 verstorbenen Marianne und hatte zwei Söhne – und zwei Fußballvereine. Einen Großen und einen Kleinen.
Für die Aachener Alemannia schlug – neben dem SV Breinig – sein Fußballherz. Am alten Tivoli hatten sie ihm immer ein Klappstühlchen am Spielfeldrand reserviert. Der etwas andere VIP-Platz passte gut zu dem etwas anderen, ganz besonderen Präsidenten, den niemand jemals eitel schalt.